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Die Pathologie der gestundeten Zeit. Zur Öffnung komprimierter Zeiträume für ethische Entscheidungen
Series
Reihe Wirtschaftsphilosophie
ISBN
978-3-7316-1238-4
Type
book section
Date Issued
2017
Author(s)
Editor(s)
Rauen, Verena
Priddat, Birger
Abstract (De)
„Zeit und Raum sind Arrangements des Bewußtseins mit seiner Enge, mit seinem Mißverhältnis zur Welt.“ (Blumenberg 1986: 88)
Einleitung
Zeit spielt eine tragende Rolle für ethische Entscheidungen. Ethische Entscheidungen zeichnen sich insbesondere durch ein Absehen sowohl von einer Logik der Schuldkausalität als auch von einem auf dem Prinzip des Ausgleichs von Schuld beruhenden Gerechtigkeitsbegriff aus. Doch welche Struktur von Zeit liegt ethischen Entscheidungen zu Grunde?
Grundsätzlich beziehen sich Entscheidungen auf Wahlmöglichkeiten, deren erwartete Konsequenzen – aus vergangenen Erfahrungen abgeleitet – auf die Zukunft projiziert werden. Die Zukunft eröffnet sich somit als ein Erwartungsfeld (Husserl 2006: 205) der antizipierten Konsequenzen unterschiedlicher Wahlmöglichkeiten. Wird eine Entscheidungssituation derart vorgestellt, spannt sich Zeit als ein kontinuierlicher Zusammenhang zwischen vergangenen Erfahrungen und der Projektion zukünftiger Konsequenzen in der Wahrnehmung des Subjekts auf. Der Ökonom Frank Knight weist darauf hin, dass die vom Subjekt auf der Grundlage vergangener Erfahrungen antizipierten Konsequenzen gegenwärtiger Entschei- dungen zugleich als zukünftige Ursachen dieser Entscheidungen angesehen werden können (Knight 1921: 201); dies ist ein Vorgang, der auch als Invertierung von Kausalität bezeichnet werden kann. Der Berechenbarkeit zukünftiger Handlungskonsequenzen auf der Grundlage vergangener Erfahrungen, wie sie beispielsweise auch im Rahmen der Theorie der rationalen Erwartung oder der Modellierung von Risiken angenommen wird, steht jedoch das bereits durch Knight hervorgehobene Problem der irreduziblen Ungewissheit gegenüber. Ungewissheit wird erstens durch die kognitiven Schwächen des Subjekts und die Komplexität von Informationen, insbesondere angesichts von Zeitknappheit, verursacht. Zweitens ist insbesondere für ethische Entscheidungen die Interaktion mit Anderen zu berücksichtigen, die, durch die Unberechenbarkeit des niemals gänzlich erschließbaren Erfahrungs- und Erwartungshorizonts des Anderen, irreduzible Ungewissheit im Hinblick auf die Konsequenzen des Zusammenwirkens vieler Individuen hervorruft.
Auf der Grundlage einer Kritik des rechnerischen Verständnisses von Zeit wird im Folgenden aufgezeigt werden, wie dieses nicht nur die Annahme einer Berechenbarkeit der Zukunft, sondern auch den strikten Vergangenheitsbezug eines auf Kausalität rekurrierenden Schuldbegriffs bestimmt. Die strukturelle Verbundenheit von Zeit und Schuld wird aus- gehend von einem Fragment des Anaximander und unter Bezugnahme auf Arbeiten Friedrich Nietzsches, Hermann Cohens und Walter Benjamins verdeutlicht. Demgegenüber wird anschließend die Bedeutung irreduzibler Ungewissheit und der ihr eigenen diskontinuierlichen Zeitstruktur für ethische Entscheidungen im Vordergrund stehen. Ethische Entscheidungen bewirken einen Bruch mit der kausalen Logik der Schuld; sie initiie- ren eine Diskontinuität im als Kontinuum erlebten Zeitbewusstsein des wahrnehmenden Subjekts und ermöglichen ethische, das heißt neue, nicht durch Schuldkausalität determinierte Handlungen. Durch die Offenheit für das Neue und das Absehen von einem ökonomischen Verständnis ausgleichender Gerechtigkeit bilden sie ein Gegengewicht zu einer antizipativen Zukunft, die durch eine Reaktion auf vergangene Kausalitäts- und Schuldverhältnisse determiniert ist.
Um eine zeittheoretische Grundlage hierfür zu legen, folgt zunächst eine kurze Darstellung des phänomenologischen Zeitbegriffs nach Edmund Husserl. Dieser durch die subjektive Wahrnehmung konstituierte Zeitbegriff wird anschließend, aufbauend auf einer Kritik am ökonomischen Verständnis der Zeit nach Hans Blumenberg, auf das Problem einer sich in stetiger Beschleunigung kristallisierenden Antizipation der Zukunft zugespitzt, die angesichts der begrenzten Lebenszeit des Subjekts einen Kompensationsmechanismus für die Unmöglichkeit darstellt, die sich am Antizipationshorizont des subjektiven Bewusstseins abzeichnenden Möglichkeiten in aktuelle Wunscherfüllungen umzusetzen. Dieser durch Be- schleunigung und durch das Bestreben nach Berechnung der Zukunft gekennzeichnete Prozess kann als „Pathologie der Zeit“ bezeichnet werden.
Die zeittheoretischen Arbeiten Husserls und Blumenbergs werden anschließend durch eine Bezugnahme auf die gesellschaftskritischen Analysen des Geographen David Harvey erweitert, der die Probleme der Zeitkompression und Beschleunigung im Rahmen der Globalisierung beschreibt. Vor dem Hintergrund der Arbeit Harveys wird deutlich, dass angesichts zunehmender räumlicher und zeitlicher Vernetzung die Bedeutung ethischer Entscheidungen auf das sie tragende Element der irreduziblen Ungewissheit und der Unberechenbarkeit der Zukunft fokussiert werden muss. Ein solcher ethischer Ansatz wird in der Sozialphänomenologie insbesondere durch Emmanuel Levinas vertreten, der die konsti- tutive Kraft der Ungewissheit für ethische Entscheidungen im Rahmen seiner Arbeiten zur ethischen Bedeutung der Alterität ausweist. Demnach liegt die Herausforderung der Ethik im Umgang mit dem durch irreduzible Fremdheit charakterisierten Anderen, der die Ungewissheit in jeglicher Entscheidungssituation, die in eine Interaktion mit anderen Subjekten eingebunden ist, bedingt. Allerdings lässt Levinas weitgehend offen, wie eine ethische Entscheidung getroffen werden soll, die gleichzeitig dem sogenannten Anspruch des fremden und stets singulären Anderen Rechnung tragen muss, aber auch den allgemeinen Ansprüchen einer normativen gesellschaftlichen und institutionellen Bezugsgröße, die er durch den Terminus des „Dritten“ bezeichnet.
Im Ausgang von, aber auch unter gleichzeitiger Abgrenzung zu diesen sozialphänomenologischen Arbeiten wird als abschließender Ausblick kurz auf den Stellenwert von Heuristiken für ethische Entscheidungen unter Ungewissheit (Gigerenzer 2010) Bezug genommen. Unauflösbar, wie die Paradoxie der ethischen Entscheidung angesichts irreduzibler Ungewissheit ist, bildet sie den Grund für ethisches Zusammenleben. Sie eröffnet die Möglichkeit der Wiederaufnahme und Weiterführung ethischer Beziehungen jenseits einer Ökonomie der Schuld und verhindert, dass dieses Ziel der Ethik zu einer widersinnigen Fortführung ökonomischer Prinzipien des Schuldenausgleichs unter dem Deckmantel der normativen Moral gerinnt. Die Paradoxie ethischer Entscheidungen ange- sichts irreduzibler Ungewissheit öffnet die Kontinuität der Erwartung für das Neue. Sie erfordert jedoch stets auch eine Offenheit für und ein Leben mit dem „Drachen“ (Koehn 2009) nicht intendierter Handlungskonsequenzen.
Einleitung
Zeit spielt eine tragende Rolle für ethische Entscheidungen. Ethische Entscheidungen zeichnen sich insbesondere durch ein Absehen sowohl von einer Logik der Schuldkausalität als auch von einem auf dem Prinzip des Ausgleichs von Schuld beruhenden Gerechtigkeitsbegriff aus. Doch welche Struktur von Zeit liegt ethischen Entscheidungen zu Grunde?
Grundsätzlich beziehen sich Entscheidungen auf Wahlmöglichkeiten, deren erwartete Konsequenzen – aus vergangenen Erfahrungen abgeleitet – auf die Zukunft projiziert werden. Die Zukunft eröffnet sich somit als ein Erwartungsfeld (Husserl 2006: 205) der antizipierten Konsequenzen unterschiedlicher Wahlmöglichkeiten. Wird eine Entscheidungssituation derart vorgestellt, spannt sich Zeit als ein kontinuierlicher Zusammenhang zwischen vergangenen Erfahrungen und der Projektion zukünftiger Konsequenzen in der Wahrnehmung des Subjekts auf. Der Ökonom Frank Knight weist darauf hin, dass die vom Subjekt auf der Grundlage vergangener Erfahrungen antizipierten Konsequenzen gegenwärtiger Entschei- dungen zugleich als zukünftige Ursachen dieser Entscheidungen angesehen werden können (Knight 1921: 201); dies ist ein Vorgang, der auch als Invertierung von Kausalität bezeichnet werden kann. Der Berechenbarkeit zukünftiger Handlungskonsequenzen auf der Grundlage vergangener Erfahrungen, wie sie beispielsweise auch im Rahmen der Theorie der rationalen Erwartung oder der Modellierung von Risiken angenommen wird, steht jedoch das bereits durch Knight hervorgehobene Problem der irreduziblen Ungewissheit gegenüber. Ungewissheit wird erstens durch die kognitiven Schwächen des Subjekts und die Komplexität von Informationen, insbesondere angesichts von Zeitknappheit, verursacht. Zweitens ist insbesondere für ethische Entscheidungen die Interaktion mit Anderen zu berücksichtigen, die, durch die Unberechenbarkeit des niemals gänzlich erschließbaren Erfahrungs- und Erwartungshorizonts des Anderen, irreduzible Ungewissheit im Hinblick auf die Konsequenzen des Zusammenwirkens vieler Individuen hervorruft.
Auf der Grundlage einer Kritik des rechnerischen Verständnisses von Zeit wird im Folgenden aufgezeigt werden, wie dieses nicht nur die Annahme einer Berechenbarkeit der Zukunft, sondern auch den strikten Vergangenheitsbezug eines auf Kausalität rekurrierenden Schuldbegriffs bestimmt. Die strukturelle Verbundenheit von Zeit und Schuld wird aus- gehend von einem Fragment des Anaximander und unter Bezugnahme auf Arbeiten Friedrich Nietzsches, Hermann Cohens und Walter Benjamins verdeutlicht. Demgegenüber wird anschließend die Bedeutung irreduzibler Ungewissheit und der ihr eigenen diskontinuierlichen Zeitstruktur für ethische Entscheidungen im Vordergrund stehen. Ethische Entscheidungen bewirken einen Bruch mit der kausalen Logik der Schuld; sie initiie- ren eine Diskontinuität im als Kontinuum erlebten Zeitbewusstsein des wahrnehmenden Subjekts und ermöglichen ethische, das heißt neue, nicht durch Schuldkausalität determinierte Handlungen. Durch die Offenheit für das Neue und das Absehen von einem ökonomischen Verständnis ausgleichender Gerechtigkeit bilden sie ein Gegengewicht zu einer antizipativen Zukunft, die durch eine Reaktion auf vergangene Kausalitäts- und Schuldverhältnisse determiniert ist.
Um eine zeittheoretische Grundlage hierfür zu legen, folgt zunächst eine kurze Darstellung des phänomenologischen Zeitbegriffs nach Edmund Husserl. Dieser durch die subjektive Wahrnehmung konstituierte Zeitbegriff wird anschließend, aufbauend auf einer Kritik am ökonomischen Verständnis der Zeit nach Hans Blumenberg, auf das Problem einer sich in stetiger Beschleunigung kristallisierenden Antizipation der Zukunft zugespitzt, die angesichts der begrenzten Lebenszeit des Subjekts einen Kompensationsmechanismus für die Unmöglichkeit darstellt, die sich am Antizipationshorizont des subjektiven Bewusstseins abzeichnenden Möglichkeiten in aktuelle Wunscherfüllungen umzusetzen. Dieser durch Be- schleunigung und durch das Bestreben nach Berechnung der Zukunft gekennzeichnete Prozess kann als „Pathologie der Zeit“ bezeichnet werden.
Die zeittheoretischen Arbeiten Husserls und Blumenbergs werden anschließend durch eine Bezugnahme auf die gesellschaftskritischen Analysen des Geographen David Harvey erweitert, der die Probleme der Zeitkompression und Beschleunigung im Rahmen der Globalisierung beschreibt. Vor dem Hintergrund der Arbeit Harveys wird deutlich, dass angesichts zunehmender räumlicher und zeitlicher Vernetzung die Bedeutung ethischer Entscheidungen auf das sie tragende Element der irreduziblen Ungewissheit und der Unberechenbarkeit der Zukunft fokussiert werden muss. Ein solcher ethischer Ansatz wird in der Sozialphänomenologie insbesondere durch Emmanuel Levinas vertreten, der die konsti- tutive Kraft der Ungewissheit für ethische Entscheidungen im Rahmen seiner Arbeiten zur ethischen Bedeutung der Alterität ausweist. Demnach liegt die Herausforderung der Ethik im Umgang mit dem durch irreduzible Fremdheit charakterisierten Anderen, der die Ungewissheit in jeglicher Entscheidungssituation, die in eine Interaktion mit anderen Subjekten eingebunden ist, bedingt. Allerdings lässt Levinas weitgehend offen, wie eine ethische Entscheidung getroffen werden soll, die gleichzeitig dem sogenannten Anspruch des fremden und stets singulären Anderen Rechnung tragen muss, aber auch den allgemeinen Ansprüchen einer normativen gesellschaftlichen und institutionellen Bezugsgröße, die er durch den Terminus des „Dritten“ bezeichnet.
Im Ausgang von, aber auch unter gleichzeitiger Abgrenzung zu diesen sozialphänomenologischen Arbeiten wird als abschließender Ausblick kurz auf den Stellenwert von Heuristiken für ethische Entscheidungen unter Ungewissheit (Gigerenzer 2010) Bezug genommen. Unauflösbar, wie die Paradoxie der ethischen Entscheidung angesichts irreduzibler Ungewissheit ist, bildet sie den Grund für ethisches Zusammenleben. Sie eröffnet die Möglichkeit der Wiederaufnahme und Weiterführung ethischer Beziehungen jenseits einer Ökonomie der Schuld und verhindert, dass dieses Ziel der Ethik zu einer widersinnigen Fortführung ökonomischer Prinzipien des Schuldenausgleichs unter dem Deckmantel der normativen Moral gerinnt. Die Paradoxie ethischer Entscheidungen ange- sichts irreduzibler Ungewissheit öffnet die Kontinuität der Erwartung für das Neue. Sie erfordert jedoch stets auch eine Offenheit für und ein Leben mit dem „Drachen“ (Koehn 2009) nicht intendierter Handlungskonsequenzen.
Language
German
HSG Classification
contribution to scientific community
HSG Profile Area
SHSS - Kulturen, Institutionen, Maerkte (KIM)
Book title
Die Welt kostet Zeit : Zeit der Ökonomie - Ökonomie der Zeit
Publisher
Metropolis-Verlag
Publisher place
Marburg
Volume
Bd. 5
Start page
57
End page
72
Subject(s)
Division(s)
Eprints ID
250970