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"Krisenwissenschaft" in einem soziologischen Laboratorium: eine Radiographie der griechischen Gegenwartsgesellschaft
Type
fundamental research project
Start Date
December 1, 2015
End Date
November 30, 2016
Status
scheduled
Keywords
Krise
Sozioanalyse
Griechenland
Description
In den 2010er Jahren hat sich der Name eines kleinen südeuropäischen EU-Mitgliedslandes geradezu zu einem Synonym für "Krise" entwickelt. Aufgrund einer permanenten medialen Sichtbarkeit der sich in Griechenland immer weiter zuspitzenden dramatischen Destabilisierung ökonomischer Verhältnisse und gesellschaftlicher Zustände wurde es zum Modellfall einer als gescheitert beurteilten nachholenden Modernisierung unter den Vorzeichen einer radikalisierten globalen "Marktvergesellschaftung" (Weber).
Massive Überschuldung öffentlicher und privater Haushalte, rückläufige Produktivität und negative Handelsbilanz, Legimitationskrise eines ohnehin verspäteten demokratischen Staatswesens, Finanzierungskrise der sozialen Grundsicherung und öffentlichen Daseinsvorsorge, massive Zunahme der Suizid- bei deutlich sinkender Geburtenrate, politische Radikalisierung am rechten und linken Spektrum des Parteienwesens: All dies und noch viel mehr spiegelt eine fundamentale gesellschaftliche Krise alarmierenden Ausmasses. Diese hat sich mittlerweile zum privilegierten Gegenstand makroökonomischer und politikwissenschaftlicher Analysen und journalistischer Essayistik entwickelt, während es bisher an grundlegenden originär sozialwissenschaftlichen Beiträgen fehlt. Diese Abstinenz erstaunt umso mehr, als sich dem Beobachter mit der griechischen Krisengesellschaft ein "soziologisches Laboratorium" sondergleichen darbietet, in welchem sich akute gesellschaftliche Fragen unserer kapitalistischen Gegenwartsgesellschaften wie unter einem Brennglas verdichtet präsentieren.
Auf der Hand liegt der exemplarische Charakter des "Falles" Griechenland zunächst für eine Reihe zeitgenössischer Gesellschaften mit vergleichbaren ökonomischen und gesellschaftlichen Problemlagen. Es handelt sich hier eben nicht um einen irreduzibel singulären "Sonderfall", sondern um einen bestimmten Typus nachholender, aber unvollendeter Modernisierung von Gesellschaften mit häufig ähnlichen soziohistorischen Antezedenzien wie schwache demokratische Traditionen, oft mit militärdiktatorischen Vorzeichen: man denke neben den bekannten Musterbeispielen sogenannter "Drittwelt-Länder" auch an andere mediterrane Staaten wie Spanien oder Portugal, nicht zu vergessen die nordafrikanischen Mittelmeer-Anrainer. Andere Parallelen ergeben sich durch die gerade den genannten Ländern gemeinsamen gesellschaftlichen Strukturmuster starker verwandtschaftlicher Organisation und Bindung bei schwachen sozialstaatlichen Entwicklungen und geringer zivilgesellschaftlicher Integration. Damit einher geht der oft weiterhin mehr oder minder stark ausgeprägte Klientelismus, die private, utilitaristische Indienstnahme öffentlicher Dienste und Güter als Pfründe und vielfältige Formen und Praktiken der Korruption. Hinsichtlich all dieser charakteristischen "Verspätungen" bietet die griechische Gegenwartsgesellschaft ein exemplarisches Terrain für die sozialwissenschaftliche Analyse einer spezifisch "mediterranen" soziohistori-schen Formation.
Hier gehen wir von einem bewusst breiten Verständnis von "Krise" aus, welches sich nicht allein auf deren materielle bzw. ökonomische Dimensionen beschränkt, sondern mittels des für uns zentralen Konzeptes "Prekarisierung" auf die vielfältigen Formen "sozialer Verunsicherung" - von Aspekten kollektiver Identität, Status, sozialer Integration, politisch-weltanschaulicher Orientierungen, alltagsweltlichen Plausibilitätsstrukturen, körperlicher und mentaler Befindlichkeit bis hin zu Lebensentwürfen und Zukunftserwartungen - kurz: auf den "Gesamthabitus" (Weber) der Menschen abzielt.
Da es sich um grundlegend prozesshafte Phänomene mit unterschiedlichen konjunkturellen Ausprägungen in einer "longue durée" der biographischen Erfahrung und des "social learning" im Umgang mit Krise handelt, greifen wir hier auf die uns einzigartig erscheinende Gelegenheit zurück, mittels eines bereits in den Jahren 2011/2012 - gemeinsam mit einer griechischen Forschergruppe der Universität Kreta unter Leitung von Nikos Panayotopoulos - durchgeführten Sets an Interviews mit rund 80 Griechinnen und Griechen einen longitudinalen Zugang zu Prozessen und Dynamiken der subjektiven Krisenerfahrung und -verarbeitung zu konzipieren. Die damaligen Probanden sind ebenso wie die beteiligten griechischen SoziologInnen bereit, sich in mehreren Wellen nochmals an dieser Forschung zu beteiligen. Geplant ist, sie im Abstand von je zwölf Monaten noch drei Mal mit einem qualitativen Forschungsansatz ausführlich zu befragen und allfällige sozioökonomische Veränderungen im Stil eines Mini-Haushaltspanels zu erfassen.
Geleistet werden soll ein innovativer Beitrag zu einer Soziologie gesellschaftlicher Krisen mittels der Langfristanalyse alltagsweltlicher Arrangements und alltagspraktischen Bewältigungsstrategien unter anomischen Rahmenbedingungen. Durch die Mehrfachbefragung von Individuen im Zeitverlauf wird verstehend nachvollziehbar, welche Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, Bewältigungsstrategien und biographischen Entwürfe Individuen in Zeiten massiver Umbrüche und Desorientierungen unter den Bedingungen einer Ökonomie der Prekarität an den Tag legen und welche Quellen und Formen an Ressourcen auf der Suche nach "Normalität" mobilisiert werden.
Massive Überschuldung öffentlicher und privater Haushalte, rückläufige Produktivität und negative Handelsbilanz, Legimitationskrise eines ohnehin verspäteten demokratischen Staatswesens, Finanzierungskrise der sozialen Grundsicherung und öffentlichen Daseinsvorsorge, massive Zunahme der Suizid- bei deutlich sinkender Geburtenrate, politische Radikalisierung am rechten und linken Spektrum des Parteienwesens: All dies und noch viel mehr spiegelt eine fundamentale gesellschaftliche Krise alarmierenden Ausmasses. Diese hat sich mittlerweile zum privilegierten Gegenstand makroökonomischer und politikwissenschaftlicher Analysen und journalistischer Essayistik entwickelt, während es bisher an grundlegenden originär sozialwissenschaftlichen Beiträgen fehlt. Diese Abstinenz erstaunt umso mehr, als sich dem Beobachter mit der griechischen Krisengesellschaft ein "soziologisches Laboratorium" sondergleichen darbietet, in welchem sich akute gesellschaftliche Fragen unserer kapitalistischen Gegenwartsgesellschaften wie unter einem Brennglas verdichtet präsentieren.
Auf der Hand liegt der exemplarische Charakter des "Falles" Griechenland zunächst für eine Reihe zeitgenössischer Gesellschaften mit vergleichbaren ökonomischen und gesellschaftlichen Problemlagen. Es handelt sich hier eben nicht um einen irreduzibel singulären "Sonderfall", sondern um einen bestimmten Typus nachholender, aber unvollendeter Modernisierung von Gesellschaften mit häufig ähnlichen soziohistorischen Antezedenzien wie schwache demokratische Traditionen, oft mit militärdiktatorischen Vorzeichen: man denke neben den bekannten Musterbeispielen sogenannter "Drittwelt-Länder" auch an andere mediterrane Staaten wie Spanien oder Portugal, nicht zu vergessen die nordafrikanischen Mittelmeer-Anrainer. Andere Parallelen ergeben sich durch die gerade den genannten Ländern gemeinsamen gesellschaftlichen Strukturmuster starker verwandtschaftlicher Organisation und Bindung bei schwachen sozialstaatlichen Entwicklungen und geringer zivilgesellschaftlicher Integration. Damit einher geht der oft weiterhin mehr oder minder stark ausgeprägte Klientelismus, die private, utilitaristische Indienstnahme öffentlicher Dienste und Güter als Pfründe und vielfältige Formen und Praktiken der Korruption. Hinsichtlich all dieser charakteristischen "Verspätungen" bietet die griechische Gegenwartsgesellschaft ein exemplarisches Terrain für die sozialwissenschaftliche Analyse einer spezifisch "mediterranen" soziohistori-schen Formation.
Hier gehen wir von einem bewusst breiten Verständnis von "Krise" aus, welches sich nicht allein auf deren materielle bzw. ökonomische Dimensionen beschränkt, sondern mittels des für uns zentralen Konzeptes "Prekarisierung" auf die vielfältigen Formen "sozialer Verunsicherung" - von Aspekten kollektiver Identität, Status, sozialer Integration, politisch-weltanschaulicher Orientierungen, alltagsweltlichen Plausibilitätsstrukturen, körperlicher und mentaler Befindlichkeit bis hin zu Lebensentwürfen und Zukunftserwartungen - kurz: auf den "Gesamthabitus" (Weber) der Menschen abzielt.
Da es sich um grundlegend prozesshafte Phänomene mit unterschiedlichen konjunkturellen Ausprägungen in einer "longue durée" der biographischen Erfahrung und des "social learning" im Umgang mit Krise handelt, greifen wir hier auf die uns einzigartig erscheinende Gelegenheit zurück, mittels eines bereits in den Jahren 2011/2012 - gemeinsam mit einer griechischen Forschergruppe der Universität Kreta unter Leitung von Nikos Panayotopoulos - durchgeführten Sets an Interviews mit rund 80 Griechinnen und Griechen einen longitudinalen Zugang zu Prozessen und Dynamiken der subjektiven Krisenerfahrung und -verarbeitung zu konzipieren. Die damaligen Probanden sind ebenso wie die beteiligten griechischen SoziologInnen bereit, sich in mehreren Wellen nochmals an dieser Forschung zu beteiligen. Geplant ist, sie im Abstand von je zwölf Monaten noch drei Mal mit einem qualitativen Forschungsansatz ausführlich zu befragen und allfällige sozioökonomische Veränderungen im Stil eines Mini-Haushaltspanels zu erfassen.
Geleistet werden soll ein innovativer Beitrag zu einer Soziologie gesellschaftlicher Krisen mittels der Langfristanalyse alltagsweltlicher Arrangements und alltagspraktischen Bewältigungsstrategien unter anomischen Rahmenbedingungen. Durch die Mehrfachbefragung von Individuen im Zeitverlauf wird verstehend nachvollziehbar, welche Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, Bewältigungsstrategien und biographischen Entwürfe Individuen in Zeiten massiver Umbrüche und Desorientierungen unter den Bedingungen einer Ökonomie der Prekarität an den Tag legen und welche Quellen und Formen an Ressourcen auf der Suche nach "Normalität" mobilisiert werden.
Leader contributor(s)
Member contributor(s)
Funder
Topic(s)
Die griechische Krisengesellschaft als ein "soziologisches Laboratorium". Habitus-Konversionen.
Method(s)
Tiefeninterviews
Haushaltsbudget-Analysen als Mini-Haushaltspanel
Range
Institute/School
Range (De)
Institut/School
Eprints ID
245196
results